Hilfe zur Selbsthilfe

Sportpsychologin Alexandra Hildebrandt über ihre Arbeit mit den Nachwuchsmannschaften von Holstein Kiel

Im Kopf eines Spielers des Nachwuchsleistungszentrums geht so Einiges vor: Neben der Tatsache, dass sich die Jugendlichen als Teenager in einer wichtigen Entwicklungsphase befinden, kommt auch noch ein gewisser Leistungsdruck hinzu. Um dieser Doppelbelastung standzuhalten, bedarf es mentaler Stärke. Immer mehr Bundesligavereine setzen deshalb Sportpsychologen ein, um die Spieler zu unterstützen, so auch bei Holstein Kiel. Alexandra Hildebrandt (27) ist seit Juli Sportpsychologin im Nachwuchsleistungszentrum der KSV. Im IKK-Interview spricht sie über ihre Aufgaben, ihre Motivation und ihr Verhältnis zu den Spielern.

Warum bist du Sportpsychologin geworden?

Das hatte für mich einen ganz persönlichen Hintergrund: Ich komme selbst aus dem Leistungssport, war in meiner Jugend sehr erfolgreich als Torhüterin im Handball. Sobald es etwas professioneller wurde, kam auch ein gewisser Leistungsdruck dazu, weil man sich mit anderen messen muss, die genauso gut sind wie man selbst. In dieser Phase hätte ich mir professionelle Unterstützung sehr gewünscht. Ich kam damals zum Beispiel im Vergleich zu den meisten anderen aus einem kleinen Dorfverein und fühlte mich deshalb oft wie ein Außenseiter oder Einzelkämpfer. Aber so etwas wie Sportpsychologie gab es bei uns damals nicht.

Warum ist Psychologie im Sport und besonders im Nachwuchsbereich wichtig?

Im Jugendbereich beginnt irgendwann ein Prozess. Man beginnt darüber nachzudenken, was man eigentlich macht. Die Kinder in der U12 oder U13 kommen hier erstmal her, weil sie Spaß haben. Aber ab der U15 oder U16 beginnen die Spieler langsam über ihren Werdegang nachzudenken. Da kommen viele Fragen auf: Was passiert, wenn ich etwas falsch mache? Was passiert, wenn ich mich verletze? Was passiert, wenn ich kein Profi werde?

Wir sind hier in einem Leistungszentrum. Und wie der Name schon verrät, wird dabei immer ein Leistungsdruck entstehen. Generell ist der Fußball eine Leistungsgesellschaft, das kann und muss man ja gar nicht verheimlichen. Wenn die Spieler und Trainer hier nur zum Spaß wären, dann könnte man eben nicht die Erfolge und Entwicklungen erzielen, die wir uns hier erhoffen.

Ich sehe die Zeit in einem Nachwuchsleistungszentrum wie einen Stuhltanz. Man beginnt in der U12 und wenn man Glück hat, findet man bis zur Profimannschaft immer einen Platz, auf den man sich setzen kann. Aber meistens schnappt dir irgendjemand deinen Platz weg, wenn die Musik ausgeht.

Hier ist der Punkt, wo die Sportpsychologie anknüpft und gefragt ist. Ich selbst habe mir all diese Fragen früher auch gestellt. Deswegen kann ich mich sehr gut in die jungen Sportler hineinversetzen.

Wie sieht ein typischer Arbeitstag für dich aus?

Einen typischen Arbeitstag gibt es für mich eigentlich gar nicht, und das ist das Schöne an der Sportpsychologie. Dadurch, dass wir hier mit 180 Jungs und zahlreichen Trainern einen sehr lebendigen Standort haben, ist meine Arbeit sehr vielfältig. Im Wesentlichen bestimmen aber drei Komponenten meinen Alltag: Einzelgespräche mit Spielern, Gruppenmaßnahmen mit den Mannschaften und sportpsychologische Coachings der Trainer. Dazu kommen Trainings- und Spielbeobachtungen, um nah an den Spielern zu sein.

Was unterscheidet Sportpsychologie von normaler Psychotherapie?

Zur Psychotherapie kommen Menschen, weil sie Probleme, Störungen oder Leidensdruck haben. Zur Sportpsychologin sollte man eigentlich auch kommen, wenn es einem gut geht, um zu lernen, wie es noch besser werden kann. Es ist als Sportpsychologin nicht nur meine Aufgabe über Probleme zu sprechen, sondern auch über Potentiale.

Wie ist dein Verhältnis zu den Spielern?

Ich möchte nicht den Eindruck vermitteln, dass ich die Spieler beobachte oder kontrolliere. Und das hat hier von Anfang an gut funktioniert. Vielleicht auch, weil ich die Sprache der Jungs spreche. Es kommt gut an, wenn man weiß, was "cringe" bedeutet oder wie Snapchat funktioniert. Ich probiere stets Offenheit zu signalisieren. Mittlerweile kommen die Spieler sogar auf mich zu und suchen das Gespräch, was ich als äußerst positiv empfinde.

Ich verstehe mich selbst als jemanden, der den Jungs einen Werkzeugkoffer zur Verfügung stellt, aus dem sich jeder nehmen kann, was er braucht: Hilfe zur Selbsthilfe quasi. Ich möchte eine Vertrauensperson sein, die manchmal auch einfach nur zuhört. Viele Jungs kommen mit einem schweren Rucksack hierher, den sie gerne bei mir abstellen können.

Welche Besonderheiten sind bei jungen Sportlern zu beachten?

In erster Linie sind die Spieler im Nachwuchsleistungszentrum ganz normale Teenager mit ganz normalen Problemen. Deshalb geht es in Einzelgesprächen auch nicht nur um Sportliches, sondern auch um familiäre Themen, erste Partyerfahrungen oder die erste Freundin. Nur weil ich Sportpsychologin bin, verschließe ich mich vor solchen Themen natürlich nicht, weil man darüber Vertrauen schafft und ein lockeres Verhältnis aufbauen kann.

Wie sehen konkrete Maßnahmen aus?

Ich versuche ständig neue Ideen zu erarbeiten und nicht mit den alten 0815-Methoden daherzukommen. Dafür stelle ich mir meistens vor, was ich beispielsweise als 15-jähriger Junge im Training gerne machen würde. Je nach Alter unterscheidet sich das natürlich extrem. Bei der U17 setze ich vermehrt auf ein spielerisches Kennenlernen. Auch wenn sich die Konstellationen hier häufig ändern, ist es wichtig, den Nebenmann zu kennen, um auf dem Platz eine Einheit bilden zu können. Vor kurzem habe ich die Jungs zum Beispiel aufgefordert, sich selbst in drei Hashtags zu beschreiben. Dabei kamen sehr witzige Ergebnisse zu Stande, die einfach im Kopf bleiben.

Bei der U23 waren Zielsetzungen ein großes Thema. In dieser Altersgruppe kann man dabei schon mit sehr spezifischen, messbaren Zielen arbeiten. Die Spieler haben vor der Saison Ziele aufgeschrieben, die wir dann nach Kategorien geclustert und in einem Vertrag festgehalten haben. Dabei war sehr schön zu sehen, dass sich drei klare Ziele herauskristallisiert haben, ohne dass sich die Spieler abgesprochen haben. Das zeigt den Mannschaftsgeist.

Auch für die Trainer stellen sich einige Fragen: Wofür möchte ich stehen? Wie möchte ich auftreten? Wie führe ich eine Mannschaft? Wie reagiere ich auf schwierige Situationen? Für all diese Fragen versuche ich aus psychologischer Sicht Hilfestellungen zu geben.

Welche mentalen Eigenschaften sind für Sportler besonders wichtig?

Von den Spielern wird fast immer zuerst das Selbstbewusstsein genannt. Dabei geht es einerseits darum, an die eigenen Stärken zu glauben, aber auch eine gewisse Resilienz zu entwickeln, also bestimmte Dinge nicht zu persönlich zu nehmen oder gewinnbringend mit Kritik und Rückschlägen umzugehen.

Es gibt diesen Spruch: Mentalität schlägt Qualität. Der stimmt glaube ich nicht ganz, weil man schon Talent und bestimmte Voraussetzungen braucht, um zu bestehen, aber die mentale Stärke ist das i-Tüpfelchen. Es kommt eben auch darauf an, Leistung dann zu bringen, wenn es darauf ankommt und nicht nur Trainingsweltmeister zu sein.

Welche Rolle spielt Social Media?

Spieler vergleichen sich durch die sozialen Netzwerke stark mit anderen Spielern und ihren Vorbildern. Das kann Fluch und Segen zugleich sein, weil dadurch eine falsche Erwartungshaltung an sich selbst entstehen kann. Zudem bekommen durch TikTok einige sehr junge Spieler schon viele Follower. Dadurch steigt natürlich auch die Gefahr, früh mit Hate-Kommentaren konfrontiert zu werden. Hier gilt es die Spieler zu sensibilisieren und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was es für das öffentliche Auftreten bedeutet, das Trikot eines Bundesligavereins zu tragen.

Was passiert, wenn die Profikarriere eines Spielers scheitert?

Auch die Karriereplanung ist in gewisser Weise Teil meiner Arbeit. Weil nicht jeder Spieler einen Profivertrag bekommen kann, ist es wichtig, einen Plan B zu haben. Viele Jungs sind, was das angeht, schon sehr reflektiert und wissen, dass sie auch in der Schule Gas geben müssen, um später die Möglichkeit zu haben, ein Studium zu absolvieren. Es ist wichtig, mit diesem Thema transparent umzugehen, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen.

Denn natürlich ist im Leben der Jungs, die hier sind, Fußball die eine große Säule. Wir wollen vermeiden, dass die Spieler hilflos dastehen, falls diese Säule mal einbrechen sollte. Deshalb ist es wichtig rauszuzoomen, um zu erkennen, dass die Jungs mehr sind als nur Fußballspieler. Sie haben eine Familie und viele andere Interessen. Irgendwo führt auch abseits des Fußballs immer ein Weg entlang, auf dem man glänzen kann.

Man muss den Spielern klar machen, dass sie nicht als Mensch schlecht sind, wenn die angestrebte Profikarriere scheitert. Jeder, der es in ein Nachwuchsleistungszentrum schafft, hat schon etwas erreicht und kann vieles aus der Zeit hier mitnehmen.